„Nichts tun. Einfach nichts tun.“

12. Januar 2012

Die Wut, die Angst und das schlechte Gewissen

Es ist ein ruhiger Abend im Spätsommer und es ist immer noch so schwül wie noch vor Stunden. Trotz vorgerückter Stunde tummeln sich noch viele Menschen in den Gassen und Kneipen. Frank S., ein selbstsicherer junger Mann von 25 Jahren, gehört nicht zu denen, die grölend durch die Straßen ziehen und versuchen, ihren Alltag durch übermäßigen Alkoholkonsum zu vergessen. Er wirkt zerstreut und unsicher, wie er so durch die Dunkelheit taumelt. Sein Blick ist leer, sein Ziel unbekannt. Er wandert allein und schier ohne Sinn und Verstand kreuz und quer durch die Stadt. Schließlich, es scheinen Stunden vergangen zu sein, bleibt er stehen und blickt sich um. Wie spät es wohl sein wird?

Er hebt seinen Arm, versucht verzweifelt das Ziffernblatt seiner schmucklosen Billig-Armbanduhr zu erkennen. Doch dies scheint zunächst erfolglos, da er sich in einer unbeleuchteten Seitenstraße befindet und sich immens anstrengen muss, die eigene Hand vor Augen erkennen zu können. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es ihm schließlich doch, die Ziffern auszumachen. 23.47 Uhr, denkt er. Vor genau 3 Stunden und 25 Minuten, nämlich am 7.August 2011, um 20.22 Uhr, wurde er bei seiner Arbeit gestört. In der Leitung war das örtliche Krankenhaus und er wurde gebeten, sich unverzüglich dort einzufinden. Dort angekommen, war es Schwester Anja K. , welche ihn mit belegter Stimme darüber in Kenntnis setzte, dass sein jüngerer Bruder, Thomas S. , einen schweren Unfall erlitten habe und nun im Koma läge. Um welche Art von Unfall es sich handelte, hatte sie ihm allerdings nicht verraten wollen. Nur dass es sehr schlimm um Thomas stehe.

Er zuckt zusammen. Im Kopf die Bilder seines Bruders, dessen weißes Gesicht nur schwer von dem Kopfkissen zu unterscheiden war. Er war kreidebleich, abgesehen von den Prellungen und Blutergüssen, die seinen Körper geschändet hatten. „Was ist passiert?“, hört er sich immer und immer wieder fragen. Doch Anja K. vermochte ihm nicht antworten zu wollen. Er sieht vor seinem geistigen Auge die Unterhaltung mit der Schwester in einer Art Dauerschleife ablaufen. Wie er sie beinahe drängte, Klartext zu reden und ihm nicht irgendwelche beschwichtigenden Ausreden anstelle der Wahrheit zu liefern.

Doch was er dann erfuhr, erschreckte ihn nicht einmal merklich. Er hatte es sich schon fast denken können. „Es hat wohl ein Übergriff stattgefunden“, hörte er sie murmeln, die Augen niedergeschlagen, die Stimme verängstigt. „Ein Übergriff? Welcher Art? Thomas hatte keine Feinde, verstand sich mit allen gut“, erwiderte Frank. „Dazu vermag ich nichts zu sagen“, keuchte sie, versuchte eiligst zu verschwinden, doch er griff sie leicht am Arm, hielt sie zurück. „Bitte!“, krächzte er verstört, „was ist meinem Bruder widerfahren? Bitte, helfen sie mir, sagen sie mir was sie wissen. Ich bitte sie!“

Tränen füllten seine Augen und die Schwester versuchte ihn nicht anzusehen, als sie sagte: „Wir wissen nichts genaues, aber es scheint eine Affekttat gewesen zu sein. Laut den Passanten, welche uns benachrichtigten, war Ihr Bruder nur ein zufälliges Opfer einiger Mitbürger, welche an der U-Bahn-Station randalierten. Er hatte wohl den Fehler begangen, sich ihnen in den Weg zu stellen, beziehungsweise ihnen nicht aus dem Weg zu gehen, als sie sich ihm näherten. Die umstehenden Leute sprachen von einem kurzem Wortgefecht, in dem es um Respekt gegangen sei, den der Deutsche ihnen gegenüber zu zollen habe – und um ein anschließendes Handgemenge, welches dazu führte, dass sich alle von ihnen auf Ihren Bruder stürzten, welcher letztendlich hier bei uns landete. Nun lassen sie mich bitte meiner Arbeit nachkommen.“

Diese Worte würde Frank S. wohl nie vergessen. „Weil er ihnen nicht aus dem Weg gegangen war?“ Soll sein Bruder wirklich sterben, weil er einem Haufen Verrückter nicht genug „Respekt“ gezollt hatte? Das kann und will er nicht glauben.  Das kann nicht sein. Es kann doch nicht möglich sein, dass ein solch lieber und zuvorkommender Kerl wie sein kleiner Bruder nun sterben muss. Er will es zwar nicht wahr haben, dennoch wurde es ihm mehrmals von der Schwester und dem zuständigem Oberarzt versichert. „Er wird es wohl nicht schaffen. Die inneren Verletzungen sind zu schwerwiegend, als dass er überleben könnte. Es tut uns leid.“

Pah! Es tut ihnen also leid? Was tut ihnen denn leid? Dass er nun krepiert, weil ein paar Türken oder sonst wer seine Nase nicht mochten und ihm „Respekt“ beibringen wollten? Es freut diese Ärzte doch, dass nicht sie, ihre Verwandten oder  Bekannten an Thomas´ Stelle im Koma liegen und mit dem Tod ringen. Sie wollen es nicht hören, dass Thomas aufgrund krimineller Ausschreitungen ausländischer Mitbürger stirbt. Sie wollen ja nicht einmal darüber reden.

Frank spürt die Wut in sich aufsteigen, wenn er daran denkt, dass da draußen irgendwelche Kriminellen umherwandern und ziellos Menschen töten. Außer sich vor Wut und Schmerz, tritt er gegen einen, sich in der Nähe befindenden, Mülleimer und beginnt wieder damit, umher zu wandern. Mittlerweile ist es kalt geworden, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Leise vor sich hin murmelnd und fluchend schreitet er die Hauptstraße entlang. Auch jetzt hat er wieder kein klares Ziel und lässt sich von seinen Füßen einfach fort tragen.

Doch diesmal zieht es ihn unbewusst zu jener U-Bahn-Station, in der sein Bruder so arg verletzt wurde. Vor dem Eingang bleibt er wie angewurzelt stehen, weiß nicht, was er nun machen soll. Soll er hineingehen und den genauen Ort des Geschehenen aufsuchen, untersuchen und daran vielleicht geistig zu Grunde gehen? Oder soll er lieber schnell weitergehen und so tun als wisse er nicht, wo er gerade sei? Innerlich entscheidet er sich für die letzte Möglichkeit, doch sein Körper macht ihm einen Strich durch seine perfide, unsinnige Rechnung. Ihm bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als seinem Gefühl zu vertrauen und einfach hineinzugehen.

Dort drin ist es kalt und keine Menschenseele ist zu sehen. Das verunsichert ihn leicht, doch er ruft sich sofort wieder zur Vernunft: „Frank, benimm Dich! Wer soll um diese Uhrzeit denn schon hier unten sein? Es gibt in Deutschland auch Menschen, die um diese Zeit schlafen oder sich anderweitig vergnügen. Du brauchst also nicht zu erwarten, jetzt hier jemanden zu treffen.“ Diese Selbstgespräche bringen ihm freilich nicht viel, auch wenn er etwas ruhiger ist und sich jetzt langsam in der Station umschauen kann. Dabei fällt sein Blick zufälligerweise auf die große Uhr im Zentrum des Platzes. Sie sieht schon reichlich mitgenommen aus. Ihr Gehäuse diente in anderen Zeiten wohl einigen Nachwuchskünstlern als Leinwand und ihre Aufmachung wirkt veraltet. Aber jedenfalls funktioniert sie noch, denkt er. Die Uhr zeigt 02.39 Uhr. Frank S. kann gar nicht glauben, so lange so ziellos durch die Umgebung gewandert zu sein. Er schüttelt ungläubig den Kopf und geht weiter in der Station umher, auf der Suche nach irgendetwas, das ihm weiterhelfen könnte. Er weiß gar nicht, was er überhaupt suchen soll, hat sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Anfänglich wollte er unbedingt einige Blutflecken finden, warum weiß er selbst nicht. Vielleicht um sich selbst zu beweisen, dass das alles kein Traum sei und er nicht anfangen würde durchzudrehen. Doch er findet nichts. Es kommt ihm vor, als würde er stundenlang suchen, und doch sind es nur wenige Minuten. Letztendlich gibt er es auf und setzt sich auf eine alte Holzbank, die, wie all die anderen Sitzmöglichkeiten hier unten, sichtlich beschädigt und alt aussieht. Auf dem Boden liegen ein paar zerbrochene Flaschen. Die blaugrünen Scherben spiegeln sich im kühlen Neonlicht. Urplötzlich kommt ihm eine Idee. Er springt auf und schnappt sich ein paar der Scherben. Ohne zu überlegen dreht er sich um und beginnt etwas in die Lehne der maroden Holzbank zu ritzen:

„Hier wurde ein deutscher Bürger, am gestrigen Tage, das Opfer eines kriminellen Übergriffes unserer allzeit geschätzten, zugewanderten Mitbürger.  Gezeichnet am 08. August 2011. Warum musste er sterben?“

Diese Inschrift bringt natürlich kaum etwas. In ein paar Tagen oder gar Stunden schon, wird sie nicht mehr zu erkennen sein. Doch es befriedigt ihn, endlich einmal auszudrücken, was in ihm vorgeht. Während er sein Werk betrachtet, übermannt ihn eine seltsame Traurigkeit, die einer Art Gefühlschaos Platz macht. Kleiner Bruder, denkt er, wieso gerade Du? Wieso muss gerade mein Bruder sterben? Und warum so? Warum so grausam? Wieso hat Dir keiner geholfen und warum haben diese Leute sich gerade Dich als Opfer ausgesucht? Ich verstehe es nicht. Was soll ich jetzt bloß tun? Wie soll ich Dir helfen?

All diese Fragen schießen ihm beinahe gleichzeitig durch den Kopf und bringen ihn zum Verzweifeln. Er fühlt sich so hilflos und aus dieser Hilfslosigkeit wird pure Wut. Wie können es sich diese Menschen nur erlauben, so über das Leben des Einzelnen zu entscheiden? Wie können sie es wagen? „Wenn ich die zu fassen kriege, dann…“ Ja, was würde er dann tun? Würde er sich auf sie stürzen? Als Einzelner gegen eine Masse scheinbar bewaffneter Verrückter? Wahrscheinlich nicht. Er würde wohl eher zur Polizei gehen und sie anzeigen. Nun, da erschließt sich das nächste Problem: Wer sind „sie“? Es gibt keine genaue Täterbeschreibung und die Augenzeugen tun wohl besser daran, sich in diese Sache nicht einzumischen und sie einfach geschehen zu lassen. Solche Leute, die nur auf ihr eigenes Wohl besonnen sind, würden auch niemals zur Polizei gehen, aus Angst, dabei erwischt und später dafür aus Rache zusammengeschlagen zu werden. Der bloße Gedanke daran versetzt ihn in Fassungslosigkeit. Sollten die Täter etwa ungeschoren davon kommen, weil die Bevölkerung Angst vor ein paar Ausländern hat? Das will er nicht verstehen. Er selbst würde niemals so reagieren, redet er sich ein, obwohl er sich eigentlich ziemlich sicher ist, dass er dies doch tun würde. Denn auch er will leben, und dafür muss man wohl wirklich Kompromisse eingehen, auch wenn deshalb mal ein paar Schwerverbrecher auf freiem Fuß bleiben. Es beschämt ihn, dass er so denkt und dass er und andere sich so verhalten oder verhalten würden.

Rache. Das ist das einzige, an das er denken kann. Wie er diese bekommt, ist ihm völlig unklar, aber es muss einen Weg geben – den gibt es immer. Ob er einfach warten soll, bis sie hier wieder auftauchen? Und dann auf sie losgehen? Am besten mit der 45-er, die er von seinem Vater bekam. Er würde sie umbringen, da ist er sich sicher. „Und dann“, fragt er sich selbst, „willst Du was machen? Dann giltst Du als Massenmörder und kommst dank Deiner Selbstjustiz ins Gefängnis, erhältst wohl lebenslang und bist verschrien als ausländerfeindlicher, innerdeutscher Terrorist. Ist es das, was Du willst? Sei doch mal ehrlich, das kannst du nicht wollen!“

Seine Vernunft siegt mal wieder. Es ist ihm klar, dass er nicht ins Gefängnis will und auf keinen Fall ausländerfeindlich ist, aber was bleibt ihm anderes übrig? Wie soll er sonst sein Recht bekommen, wenn er allein gegen eine große Masse steht, der Staat, beziehungsweise die Polizei, ihm nicht helfen wird und Selbstjustiz ihm nur selbst schadet? Wie soll man weiterleben, wenn man weiß, dass irgendwo ein paar Kriminelle immer weiter morden, ohne bestraft zu werden? Wie soll man das ertragen? Nichts tun, sagte die Stimme in seinem Kopf, die sich sein Gewissen schimpft. Einfach nichts tun. Das ist das Beste.

Doch, ist es das? Kann das wirklich sein? Ja, wiederholt sie sich immer wieder, Nichts tun – oder bei dem Versuch, etwas zu tun, alles verlieren. Ist es das wert? Ich denke nicht. Aber es ist doch auch nicht so schlimm, wenn man bei der Verfolgung eines Ziels stirbt, wenn man einen Grund hat zu sterben, oder etwa nicht?

Frank S. weiß nicht mehr weiter. Er steht allein und verwirrt da und ringt mit sich selbst, nicht bereit, die Angst siegen zu lassen. Er will nicht resignieren, will kämpfen. Doch schafft er es nicht. Der Gedanke an die übermäßige Zahl derer, gegen die er sich gerade eben noch zu stellen vermochte, versetzt ihn in Panik. Was, wenn sie beginnen, seiner Familie, seiner Freundin zu nahe zu kommen? Was soll er dann machen? Wie soll er sein Verlangen nach Rache endlich stillen? „Nichts tun“, murmelt er. „Einfach nichts tun…“

 

Autorin: Petra Wilhelm

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