Behutsam heben sie den jungen, ausgebluteten Körper auf den Tisch.
Sofort beginnt der Arzt, die Schlagader abzubinden, um ein völliges
Verbluten zu verhindern. Dann betrachtet er das mit Blutkrusten
bedeckte Gesicht. Oberhalb des Mundwinkels ist das Einschussloch, der
Oberkiefer ist verletzt, man sieht Knochensplitter und ein Geschossteil
in der Wange. Die Kugel hat die Zunge durchschlagen und ist im Rachen
vor dem zweiten Halswirbel stecken geblieben.
Seine Temperatur ist durch den Blutverlust gesunken. Tapfer und
verbissen kämpft er gegen seine jammervolle Lage an. Langsam erholt er
sich. Eine Schwester betritt sein Zimmer. Auf dem Schild über den Bett
steht sein Name: Horst Wessel, 22 Jahre alt. Mit geschwollener Zunge
beginnt er von seiner letzten Erinnerungen zu erzählen.
„Ich habe mir immer gedacht, dass ich eines Tages mal so ein Ding
abkriege. Meine Wirtin hat mit denen bestimmt unter einer Decke
gesteckt. Das ging alles so schnell, ich war gar nicht darauf
vorbereitet. Ich saß am Schreibtisch und arbeitete, hörte wie jemand
draußen fragte: Ist Horst Wessel da? Ich dachte, das werden Freunde von
mir sein, mache die Tür auf, und da haben sie, ohne ein Wort zu sagen,
geschossen. Den Knall habe ich noch gehört, habe gespürt, wie das Blut
mir so warm aus dem Hals lief, aber das ging alles blitzschnell, sie
haben gar nichts gesagt, sondern sind gleich weggelaufen, ich bin dann
wohl ohnmächtig geworden.“
Nach fünf Wochen des Bangens – es schien fast, als würde er sich
erholen, so lebhaft und frisch wirkte er – verschlechterte sich sein
Zustand. Immer wieder musste ihn der Arzt mit Sauerstoff und Spritzen
behandeln. Als sein Kamerad, der Sturmführer Fiedler mit fünfzehn
seiner treuesten Freunde kam, lag er mit geschlossenen Augen
unbeweglich und schwer atmend im Bett.
Vor der Tür halten seine Freunde treu die Wacht. Seine Mutter und seine
Schwester sitzen am Fußende des Bettes, während sein junger Köper mit
dem Tode ringt. Eine unheimliche Schwere liegt über dem Zimmer.
Manchmal, ganz leise, dringen noch Worte über seine Lippen, aber
verstehen kann man sie nicht mehr. Dann hört das tapfere Herz auf zu
schlagen.
79 Jahre nachdem das jungen Leben Horst Wessels im Krankenhaus am
Friedrichshain erlosch, durchstreifen Widerstandskämpfer die Straßen
ihrer Heimatstädte, um an die Ermordung des tapferen Studenten zu
erinnern. Er ist das geheime Vorbild einer anderen Jugend, einer neuen
Generation, fern derer, die täglich den Abbildern künstlicher Figuren
aus Fernsehen und Hochglanzmagazinen nachjagen. Sein Leben wie sein
Sterben ist es, dass das Feuer in ihren Herzen entstündet, sie dazu
zwingt den unerträglichen Zustand des Volkes zu verändern und dessen
Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Auch wenn das Gedenken Horst Wessels heute verschmäht und seine Lieder
verboten sind, dereinst, wenn das gedemütigte Volk aufersteht und sich
in Bewegung setzt, dann marschiert er, so wie er es einst schrieb, im
Geiste mit.
Für jeden, der als Freiheitspfand
sein junges Leben läßt,
stehen hunderte auf im ganzen Land
und stehn zur Fahne fest.
Heinrich Anacker