Am 9. Oktober 1989 gehen 70.000 Leipziger auf die Straße und erstreiten sich ihr Demonstrationsrecht. Trotz massiver Polizeipräsenz kommt es nicht zu blutigen Auseinandersetzungen. Es war die Montagsdemonstration, die als Durchbruch für die friedliche Revolution in der DDR gilt.
Der Pfarrer im maßgeschneiderten Anzug, die Bügelfalte spielt mit dem blanken Schuh, steht wie ein Manager am Pult der Nikolaikirche und spricht von Angst. Die lässige Haltung verdeckt die eigene Furcht. Hinter den himmelwärts strebenden Fenstern zucken aufblitzende Lichter. Vom Kirchhof dringen Rufe und Schreie herein. Mit vibrierender Stimme spricht der Pfarrer: “Angst muss erkannt und ausgesprochen werden. Schon verliert sie einen Teil ihres Schreckens… Die Hoffnung muss unter die Angst fahren. Nie ist Hoffnung wichtiger als mitten in der Angst.” Und ein Mann mit verschmutzter Brille ruft über ein paar Bankreihen hinweg: “Die Angst muss konvertieren in Widerstand!”
Montag, 4. September: Demonstration vor der Nikolaikirche. “Reisefreiheit statt Massenflucht”, steht auf einem der Transparente. Plötzlich stürzt ein Stasi-Mann in die Menge und reißt das Spruchband nieder. Einer fragt bei der SED an, ob die Sicherheitsorgane des Landes für eine Massenflucht seien.
Montag, 2. Oktober: Auf der Demo brüllt ein Jugendlicher einen Schutzpolizisten an: “Du Verräter!” Den Umstehenden erklärt er: “Mit dem habe ich gespielt, seit ich laufen kann, wir sind zusammen in die Schule gegangen, wir haben im Betrieb den gleichen Beruf gelernt. Und jetzt steht er dort, und ich stehe hier!”
Szenen, die schon vor Wochen zu beobachten waren, wiederholen sich. Ein junger Polizist schert aus einer vorrückenden Linie aus, streift verzweifelt seine Ausrüstung ab. “Ich kann das nicht! Ich will das nicht!” Der Konflikt steckt auch in der Uniform. Die regelmäßige, überstarke Präsenz der Polizei und Stasi lockt jeden Montag auch viele Nicht-Leipziger an. Die gerüstete Macht provoziert den Zorn der Massen.
Freitag, 6. Oktober: Der nervös gewordene Staatsapparat baut einen immensen psychologischen Druck auf. Ein von der SED lancierter Leserbrief eines Betriebskampfgruppenkommandeurs erscheint in der “Leipziger Volkszeitung”: “Werktätige des Bezirks fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden! […] Wir sind bereit und willens, das mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!”
Sonnabend, 7. Oktober: Die Leipziger kochen vor Wut. Für einen Nicht-Sachsen klingt die Reaktion merkwürdig, vielleicht sogar komisch, ist aber todernst gemeint: “Also, sooo nich! Awer nu gerade!” Die barocke Tortenbilanz und die inszenierte Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR erbittern sie. Der Zorn drängt viele auf die Straße. Wasserwerfer und Knüppel treiben die “staatsfeindliche Zusammenrottung” auseinander.
“Also, sooo nich! Awer nu gerade!” Für den folgenden Montag wird bei der traditionellen Demonstration mit dem Schlimmsten gerechnet. Über Leipzig ballt sich die Last einer Entscheidung zusammen: Wird es hier eine chinesische Lösung geben, wie am 4. Juni ’89 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, oder kann das Demonstrationsrecht erstritten werden?
Montag, 9. Oktober, 13 Uhr: Der amtierende Chef der Polizeibehörde des Bezirks Leipzig, Oberst Sinagowitz, zu einbestellten Journalisten: “Wir gehen davon aus, dass wir diese Ansammlungen um die Nikolaikirche bereits dort auflösen. Über den Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) wird keiner kommen.”
Montag, 9. Oktober, 16 Uhr: Gerüchte und wahre Berichte kursieren in der Stadt: Ist Munition ausgegeben worden oder nicht? Sind auf den Dächern MG-Nester? Jedenfalls ist bekannt, dass viele Ärzte, besonders von Chirurgischen- und Intensivstationen, sich in Bereitschaft zu halten haben. Blutkonserven und Sonderbetten werden herangeschafft. Mit Augenverätzungen, wegen des möglichen Einsatzes von Sprühstoffen, wird gerechnet. In einigen Schulen und Werken haben die Direktoren gedroht, mit disziplinarischen Maßnahmen gegen all jene vorzugehen, die am Abend demonstrieren. In manchen Betrieben sind Eltern angewiesen worden, ihre Kinder bis 15 Uhr aus den Kindergärten oder -krippen abzuholen.
Auch die Kirchen treffen Vorbereitungen. Das Diakonissen-Krankenhaus stellt sich auf Notfälle ein, in St. Thomas wird eine Sanitätsstelle eingerichtet. Die vier Innenstadt-Kirchen sollen für eventuell flüchtende Menschen offen stehen. Im Umfeld Leipzigs richtet die Stasi zusätzliche Stützpunkte ein. Das “agra”-Landwirtschaftsausstellungsgelände wird für die Aufnahme von “Zugeführten” vorbereitet.
“Also, sooo nich! Awer nu grade!” Aufbegehren trotz Angst. Viele Leipziger befürchten, dass geschossen wird. Manche schlucken das Beruhigungsmittel Faustan.
Montag, 9. Oktober, 17 Uhr: Die vier Innenstadt-Kirchen sind bereits voll, vielfach von zeitig hinbeorderten Staatstreuen. Allein in St. Nikolai sitzen an die 700 SED-Genossen. Der Pfarrer mimt den Ahnungslosen. Sollen sie ruhig hören, wie ernst es den “Konterrevolutionären” mit der Gewaltlosigkeit ist, wie sie sich sorgen um das Land.
Nach den Friedensgebeten in den Kirchen marschieren die Demonstranten auf dem Straßen-Ring des Leipziger Zentrums. Siebzigtausend Menschen! Noch nie waren es so viele. Nicht wenige haken sich unter, das gibt Kraft und Vertrauen wider die Furcht. Ihr eindringlichster Ruf: “Wir sind das Volk!” Ein paar Wochen später werden diese Worte die Menschen in Prag und Bukarest übernehmen.
Am Dietrichring stoßen Bezirkspolizeibehörde und der Stasi-Trakt aneinander. Polizeiketten riegeln diese verhasste “Runde Ecke” auf der Mitte des Bürgersteigs ab – allein der Anblick der Schlagstöcke und Schilde: Eskalation. Die Spitze des Demonstrationszuges ist vorüber. Das gellende Pfeifkonzert ebbt aber nicht ab, wird stärker. Viele aus dem Zug bleiben stehen, rücken näher auf die Polizisten zu. Besonnene halten ein paar Hitzköpfe zurück.
Montag, 9. Oktober, 19 Uhr: Plötzlich, als die Demonstranten noch einen Schritt vor gehen und die Lage zu eskalieren droht, erklingt das Geräusch Tausender abziehender Stiefel. “Keine Gewalt! Keine Gewalt” schreien besonnene Demonstranten. “Weiterlaufen!” Die Staatsmacht weicht zurück, die friedlichen Demonstranten bleiben vor der chinesischen Lösung bewahrt. Erstmals können sie ungehindert über den gesamten Altstadtring ziehen. Der Damm der Angst und des Schweigens ist gebrochen.
Nach den Erfahrungen der vorangegangenen Montagsdemonstrationen sind die Ereignisse an diesem Tag für viele Leipziger beinahe unglaublich: Keine Gewalt, kein Verletzter, kein Verhafteter. In den grünen LKWs, die in langen Reihen in der Goethestraße vor der Oper bis zum Hauptbahnhof stehen, werden Knüppel, Schilde und Helme verstaut.
Am nächsten Montag, dem 16. Oktober, demonstrieren 150.000 Menschen – am Tag darauf kippen die Stühle von Honecker, den SED-Politbüromitgliedern Günter Mittag und Joachim Herrmann. “Thronerbe” Egon Krenz wird auf Transparenten jeder Demonstration abgelehnt: “Die alten Kutscher müssen weg, die Karre sitzt zu tief im Dreck.” Jegliche Angst vor der Staatsmacht ist endgültig gewichen.