Es ist der 8. Juli 1918. Ich schaue in ein helles Licht. Um mich herum verstummt langsam das laute Knallen der Artillerie, der Rauch zieht über das Schlachtfeld, auf dem ich mit einem Schuss in der Brust liege. Wilhelm, ein Kamerad meines Zuges, versucht mich wach zu halten und ruft vergeblich nach einem Sanitäter. Doch dafür ist es nun zu spät, ich spüre wie das Leben aus mir zieht. Ich bin 28 Jahre jung und lasse in meiner Heimatstadt Döbeln meine Frau und meine Kinder zurück.
Seit 97 Jahren bin ich nun tot und liege auf dem Friedhof in meiner Heimat. So viele meiner Kameraden fanden nie zurück, keine Blumen an ihren Kreuzen, kein stilles Erinnern an unser Leben, unser Sterben. Und so viele liegen in der Erde und niemand mag sich um sie kümmern. Unbeachtet verrotten die Kreuze, die an den Tod dieser Männer erinnern.
An die Front ging ich, als ich einberufen wurde in den Krieg. Für mich war das selbstverständlich. Ein Einbruch der Front, ein Unwille zum Kampf, hätte bedeutet, dass der Feind unser Land besetzt. Die Folgen wären nicht abzusehen gewesen. Vielleicht hätte man die Ressourcen entwendet, Fabriken zerstört und die Maschinen in Feindesland verfrachtet. Uns wäre vielleicht nur verbrannte Erde geblieben, die nicht mehr unser ist, die besetzt ist und auf der wir keine Stimme mehr haben, keine Freiheit.
Angst? Natürlich! Nur ein Narr, ein Idiot hat keine Furcht vor dem Tode. Ich wollte nach Hause, zu meiner Frau, meinen lieben Kindern und zurück in meine Arbeit. Doch das ging nicht, ich hatte eine Pflicht zu erfüllen.
Die Lebenden fragen oft, ob der Tod von einem Sinn geprägt ist. Ich denke, dass es die Frage ist, wofür man starb und welche Folge dieser Tod hat. Ich starb in der Kriegswüste von Flandern, um uns herum war nur der Tod. Nicht nur der Tod der Soldaten, auch die Natur starb. Verkohlte Bäume, totes Gras, totes Vieh. In dieser Hölle lebten nur noch wir, die Soldaten. Und auch wir starben.
97 Jahre bin ich nun tot. Und es ist der Abend eines kühlen Märztages, an dem ich über mir Leben spüre. Inmitten der Kälte des Frühjahres, an dem sich nur Schneeglöckchen und Krokusse über die Erde wagen, verspüre ich im Regen die ruhigen aber bestimmten Tritte, die für mich schon seit Jahren unverkennbar sind. Sie sind wieder da. Aus der Dunkelheit kommt ein Licht. Erst unscheinbar und klein, dann immer mehr Form gewinnend. Es sind junge Deutsche, Männer und Frauen, mit Kerzen und Fackeln, die sorgsam und vorsichtig um die Gräber meiner Kameraden gehen und eine Kerze an jedes Kreuz stellen. Sie stehen still. Ganz still. Sie rufen uns zu sich, in ihre Herzen. Sie haben uns nicht vergessen, nicht vergessen, wofür wir starben.
Ich bin glücklich. Glücklich, dass wir nach einem Jahrhundert noch nicht vergessen sind. Das Menschen sich erinnern. Meine Kameraden werden sicher die selbe Freude, die selbe Sehnsucht fühlen, die auch ich fühle.
Angst? Natürlich habe ich Angst. Ich habe Angst, vergessen zu werden. Nur diese jungen Menschen sagen heute noch: „Hier liegt Martin Weidelt.“
JN Mittelsachsen