Nach ihrer ersten Staatswerdung und Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges, nach wechselnder Besatzung, Fremdherrschaft, Unterdrückung und Genozid, kommt dem Begriff der Freiheit in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ein ganz besonderer Stellenwert zu. Am 18. November des vergangenen Jahres feierte Lettland das 100. Jubiläum seiner 1918 errungenen und 1990 wiedererlangten Unabhängigkeit. Zum wiederholten Mal wohnten auch Junge Nationalisten den Feierlichkeiten bei.
Zehn auf zwanzig Meter groß weht die lettische Fahne stolz und bedächtig am Ufer der Daugava. Gerade so, als würde sie über das geschäftige Treiben in den Straßen und Gassen von Rigas Altstadt wachen. Rot und Weiß, so die Farben der zu den ältesten der Welt zählenden Flagge, stehen für Mut, Kampf und Heldentum (rot), für Erhabenheit und Aufrichtigkeit (weiß). Eingeweiht wurde dieses monumentale Nationalsymbol am 18. Oktober 2017.
Am Grab Konstantins Pupurs‘
Der Brüderfriedhof, nationales Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und des lettischen Unabhängigkeitskampfes. Hier, wo inmitten eines Ehrenhaines aus 100 Eichen die Ewige Flamme brennt und wo Mutter Lettland mit ihren gefallenen Söhnen über die Toten wacht, hat auch Konstantins Pupurs seine letzte Ruhe gefunden.
Kennenlernen durften wir diesen besonderen Menschen im November 2016, während unserer ersten Reise nach Lettland. Der am 5. März 1964 in Riga geborene Politikwissenschaftler, Historiker und Menschenrechtsaktivist nahm während der Zeit der so genannten „Singenden Revolution“ eine bedeutende Rolle ein. Am 14. Juni 1988 zogen er und andere Aktivisten erstmals in der Zeit der sowjetischen Okkupation mit der lettischen Nationalfahne, deren Zeigen unter Strafe verboten war, vom Freiheitsdenkmal zum Brüderfriedhof.
Kurz darauf vom KGB verhaftet und ausgewiesen, kehrte Konstantins 1992 nach Lettland zurück, wo er seine Ausbildung an der Universität fortsetzte und sich, entgegen aller Warnungen noch immer aktiver KGB-Elemente, am politischen Leben beteiligte. Nach einem mutmaßlichen Mordanschlag im Jahr 1994 ging er zurück in die Vereinigten Staaten, wo er unter anderem bis 2010 in der US-Navy diente und den Rang eines Leutnants erhielt.
Nach seiner erneuten Rückkehr nach Lettland wurde er in der nationalistischen Partei Visu Latvijai (Alle für Lettland) aktiv, welche 2011 mit der Partei Für Vaterland und Freiheit (Tevzemei un Brivibai) die Nationale Allianz (Nacionala Apvieniba) bildete. Konstantins Pupurs verstarb am 10. September 2017.
In der Segewold-Stellung – Die Kämpfe von More
Gemäß unseres Dreiklanges aus Gemeinschaft, Bildung und Aktivismus war auch diesmal ein kultureller bzw. historischer Ausflug fester Bestandteil des Programms. So besuchten wir unter anderem auch die so genannte Segewold-Stellung. Dort, wo die 19. Grenadier-Division in schweren Gefechten stand, um den weiteren Rücktransport von Militär und Zivilbevölkerung zu sichern, ist heute ein Gedächtnispark eingerichtet. Die Verteidigungslinie von Sigulda, die Segewold-Stellung, war eine der am besten geplanten deutschen Rückzugspositionen in Lettland und diente als Auffanglinie für die aus Estland zurückflutenden Teile der Wehrmacht. Stellungen und Bunker können noch heute besichtigt werden. Die Namen von 186 Gefallenen sind auf Granittafeln verewigt. Ein Kreuz aus Stein ist jenen gewidmet, die noch immer auf dem Schlachtfeld liegen.
Im September 1944 trieb die Rote Armee, mit dem Ziel die deutschen Truppen zu vernichten, ihre Offensive in Richtung Baltikum voran und erreichte am 25. September die Verteidigungsstellungen Sigulda in More. Die 10 Kilometer langen Schützengräben wurden fast ausschließlich von Soldaten der 19. Division verteidigt. Fünf Tage lang verliefen erbitterte Kämpfe gegen einen zehnfach überlegenen Gegner. Der Durchbruch der Roten Armee bei Kartuzi wurde am 29. September zurückgeschlagen. Die Schlacht von More endete am 30. September. Der Kampfauftrag war erfüllt, der Feind gestellt. Auf Befehl der obersten Heeresleitung verließ die deutsche Armee vom 5. auf den 6. Oktober 1944 die Verteidigungsstellungen. An den Kämpfen um More haben etwa 11.000 lettische Legionäre teilgenommen.
Daudz laimes, Latvija! – Alles Gute Lettland!
Am Nachmittag des 18. November versammelten sich mehr als 20.000 Menschen aller Altersklassen am Denkmal des ersten lettischen Ministerpräsidenten Karlis Ulmanis, ab 1936 auch Staatspräsident. Wegen der Auflösung des Parlamentes 1934 und der Vereinigung der Ämter des Präsidenten und des Premierministers negieren Kritiker heute das Andenken Ulmanis’, ungeachtet der ökonomischen Erfolge des Landes während seiner Amtszeit. So avancierten nicht nur Deutschland und Großbritannien zu den wichtigsten Handelspartnern, sondern wurde auch der Bildungspolitik eine große Bedeutung zugemessen, wodurch Lettland eine der höchsten Alphabetisierungsquoten in Europa erreichte. So erfreut sich der Mitbegründer des Lettischen Bauernverbandes und Volksrates auch heute noch großer Popularität und Verehrung. Karlis Ulmanis, dessen letzte Ruhestätte bis heute unbekannt ist, starb 1942 in einem Gefängnis im heutigen Turkmenistan.
Nach dem Absingen der Nationalhymne setze sich der Fackelzug in Richtung des Freiheitsdenkmals in Bewegung, wo unsere Aktivisten auch mit einer Abordnung der Nationalen Jugendbewegung (Nacionala Jaunatnes Kustiba) zusammentrafen. Entlang am Ufer der Daugava, über geschmückte Straßen und vorbei an beflaggten Gebäuden schob sich das schier unendliche Lichtermeer mit fröhlichen Gesichtern, traditionellem Gesang und einer unaussprechlichen Kraft hin zum Freiheitsboulevard, einer von der Altstadt nach Osten führenden Magistrale, auf welcher sich das Freiheitsdenkmal befindet.
Unter dem wachenden Blick der Milda, so der Name der Freiheitsgestalt im lettischen Volksmund, patrouillierte bereits den ganzen Tag die Ehrenwache und im Minutentakt wuchs das rot-weiße Blumenmeer zu Füßen der in Stein gehauenen Werte, historischen Ereignisse und mythischen Gestalten des lettischen Volkes. Errichtet wurde das 42 Meter hohe Denkmal, dessen Bau sich aus Spenden der Bevölkerung finanzierte, in den Jahren 1931 bis 1935 während der ersten Unabhängigkeit Lettlands. Ihr Ende fanden die Feierlichkeiten traditionell mit einem großen Feuerwerk.
Wie viele unserer Reisen in das europäische Ausland, lassen uns auch die Eindrücke und Erlebnisse zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Lettlands über die Zukunft unserer eigenen Nation nachdenklich werden. Das Gelernte und in der Gemeinschaft Erlebte darf nicht nur innerhalb unserer Organisation im Kreise laufen, sondern muss den Weg zu denen finden, die wie wir eine grundlegend andere Perspektive für sich und unser Volk suchen. So geht, noch in Gedanken versunken unser Gruß an Lettlands Bernsteinküste: Daudz laimes, Latvija! – Alles Gute Lettland!